Wetzlar aus der Sicht eines hochgradig sehbehinderten Menschen (Update vom 7.10.2021)


Update vom 7. Oktober 2021

Ich habe mich noch einmal über die Bedeutung des Zusatzzeichens Radfahrende frei informiert und werde meine vorher genannte Meinung zurücknehmen:

Laut diesem Zeichen dürfen radfahrende Personen den Gehweg benutzen, solange sie keine Personen, die zu Fuß unterwegs sind, gefährden. Das heißt im Klartext:

  • Eine Person auf dem Fahrrad darf lediglich in Schrittgeschwindigkeit auf dem Gehweg fahren
  • Befindet sich Personen zu Fuß auf dem Gehweg, müssen Radfahrende auf der Fahrbahn weiterfahren

Also einfach klingeln und Menschen mit Schwerbehinderung, die es a) nicht sehen und b) das Geräusch nicht verorten können, fast umfahren ist definitiv nicht Teil dieser Regeln. Somit bleibt es beim Alten: Radfahrende auf Gehwegen sind asozial und eine Gefährdung für Menschen zu Fuß, besonders für welche mit hochgradiger Sehbehinderung oder Blindheit. Und wenn mir jemand mit dem Rad in den Stock fährt, ist das definitiv nicht mein Problem, sollte ich angefahren werden, ist es aber ganz sicher das der radfahrenden Person!

Ursprünglicher Beitrag

Ich habe mich hier in meinem Blog immer wieder über rücksichtslose Menschen aufgeregt, die mit dem Fahrrad auf dem Gehweg unterwegs sind. Auch wenn letzteres nach wie vor bestehen bleibt (oder wie wollt ihr, liebe Radfahrende, es sonst nennen, wenn ihr mit Karacho angerast kommt, klingelt und ohne zu bremsen fast Menschen, die zu Fuß unterwegs sind umfahrt? Auch mir ist es trotz Blindenlangstock und Pendelbewegung schon passiert, dass ich gestreift wurde und die schuldigen Personen einfach weitergefahren sind und ich einfach Pech hatte), so muss ein Teil der Anschuldigung doch zurückgenommen werden. Egal, ob in der Altenberger Straße oder in der Neukölln-Anlage (und vermutlich auch auf dem Karl-Kellner-Ring): In regelmäßigen Abständen sind Schilder Sonderweg für Fußgänger (Verkehrszeichen 239) platziert. Unterhalb dieses Schildes befindet sich ein weißes Schild mit der Aufschrift Radfahrende frei. Somit dürfen radfahrende Personen in der Tat die Gehwege benutzen. Und dass, obwohl die Straße breit genug wäre.

Was bitte schön haben sich die Verantwortlichen der Stadt Wetzlar bei dieser Entscheidung gedacht? Wetzlar wird barrierefrei hieß es zum Hessentag 2012. Wir haben nach wie vor genug Ampeln ohne Vibration oder akustische Signale, Leitlinien sind nur sehr sporadisch vorhanden. Als hochgradig sehbehinderter Mensch klappt das Orientieren ohne Leitlinien (jedenfalls tagsüber) noch; aber ich bin auch hier geboren und kenne die Stadt von klein auf.

Überquert man nun die, über die Dill führende, Brücke (L3020), welche die Altenberger Straße mit der Neustadt verbindet, hat man mit Gehbehinderung jedoch ganz schlechte Karten. Früher befand sich dort ein Bürgersteig, wie er auch auf den Wegen vor und nach der Brücke zu finden ist, mittlerweile sind die Bürgersteige auf der Brücke beidseitig sowohl stark verkleinert, als auch mit einer ungewöhnlich hohen Bordsteinkante versehen. Dies geschah angeblich, um Verkehrsteilnehmern, die mit dem Auto die Fahrbahn nutzen, das Abkürzen über den Bordstein unmöglich zu machen. Es ist aber für Menschen zu Fuß oder per Rad nun nicht nur verdammt schwer, gemeinsam diese Brücke zu überqueren; Wer einen Gehstock, Blindenstock, Rollator oder Rollstuhl nutzt, muss sehr aufpassen, dass er nicht auf die Fahrbahn gerät. Wer zu Fuß unterwegs ist, würde sich vermutlich an den Knöcheln verletzen, aber wer auf den Rollstuhl angewiesen ist, hätte keine Chance, die Fahrbahn zu verlassen und müsste die Brücke erst auf ihr überqueren. Früher war das, wie gesagt, nicht so – da gab es nur einen niedrigen, breiteren Bürgersteig.

Natürlich muss man Wetzlar das gut ausgebaute Busnetz zugute halten. Egal ob in Dalheim, der Altenberger Straße oder der Neustadt. Man hat wahrlich genug Möglichkeiten, quasi von Dalheim (oder den reichlich vorhandenen Zwischenstationen) im 20-Minuten-Takt bis zum Zentralen Omnibusbahnhof in der Innenstadt zu gelangen, von wo aus man weitere Haltestellen erreichen oder sogar bis nach Gießen fahren kann. Und wer letzteres – verständlicherweise – nicht mit dem Bus möchte, nutzt den nahegelegenen Bahnhof.

Das Verkehrsnetz ist also wahrlich nicht das Problem, aber dennoch: Gehwege, die von Radfahrenden benutzt werden dürfen, obwohl eine gut ausgebautes Straßennetz vorhanden ist, Ampeln (teilweise) ohne Ton-Signale und/oder Vibration und sehr sporadisch gesetzte Leitlinien sind wahrlich keine Dinge, mit denen sich die „barrierefreie Stadt Wetzlar“ rühmen sollte.


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